Annaberg-Buchholz, Ratsherrencafe
		Seit mir bekannt ist, dass die sogenannten Kuchen-Pappen – jene kleinen, unscheinbaren
		Pappstückchen, die dafür sorgen, dass Eierschecke und Co. den Transport vom Bäcker
		zum heimischen Kaffeetisch unbeschadet überstehen – für höhere Zwecke – nämlich für
		Kunst – durchaus geeignet sind, seit dem ist mein Kuchenkonsum enorm gestiegen ...
		Noch dazu, da ich weiß, dass die Kuchenpappen meines Geyerschen Stammbäckers von
		besonders guter Qualität sind, wie mir von Europas einzigem Kuchenpappenkünstler
		bestätigt wurde. Nun versuche ich seit geraumer Zeit, die interessantesten Kuchenpappen
		frisch auf den Ateliertisch nach Buchhoiz zu liefern ... Was mir bei täglichem
		Kuchenkonsum eigentlich nicht allzu schwerfallen dürfte ... Doch die Chefin meines
		Bäckers spielt nicht richtig mit, leider. Da kann der Pflaumenkuchen noch so feucht sein –
		an der Kuchenpappe wird gespart ... Allerdings habe ich ihr auch noch nicht von meinem
		spezieilen Interesse und den höheren Weihen, die den kleinen Pappen bevorstehen,
		berichtet. Wahrscheinlich würde sie es nicht verstehen und mir einen ganzen Stapel
		Pappen anbieten – aber eben frische, noch unbefleckte, die gar nichts nützen würden. Also
		hoffe ich immer auf die angestellte Verkäuferin, die pflichtbewusst bei jedem Stückchen
		Kuchen auch zur Pappe greift.
		Mit den Speziaikenntnissen von Europas einzigem Kuchenpappenkünstler kann ich mich –
		freilich noch lange nicht messen. Er weiß, welche Sorte für diese oder jene fettige Spur auf
		der Pappe verantwortlich ist, er kann von den kleinsten Farbresten auf den einstigen
		Fruchtbelag schließen; er kennt die Pappenformate und Qualitäten fast aller Bäckerein der
		Gegend. Ich weiß nur, dass Bienenstich und Mandelkuchen aufgrund ihres relativ hohen
		Fettgehaltes für eine recht intensive Durchdringung der Pappe sorgen.
		Genug zum Trägermaterial – nun zur Kunst. Denn keine Frage, seit Joseph Beuys ist das
		Material Fett zu einem festen Bestandteil moderner Kunst geworden. Ebenso hat das
		Prinzip Zufall in den künstlerischen Prozess seit langem Einzug gehalten.
		In seinen Kuchen-Zeichnungen, die in den letzten 2 Jahren entstanden sind, verbindet Jörn
		Michael seine Vorliebe für Unbeachtetes und Unscheinbares, das Spielen mit dem Zufall
		und seinen ausgezeichneten Blick für Strukturen und Mikrokosmen.
		Die vom Kuchen hinterlassenen Flecke bilden den Ausgangspunkt für das zeichnerische
		Abenteuer, in das er sich mit dem Tuschestift stürzt und mit feinen Linien oder meist mit
		Tausenden von Punkten auf Spurensuche begibt. Von vornherein ist niemals klar, welch
		Ergebnis erzielt wird – und darin liegt das Spannende, was für den Herstellungsprozess
		ebenso gilt wie für unsere Wahrnehmung.
		Es erscheint schließlich ein Bild auf der Pappfläche, welches das
		Ausgangsstadium nur noch erahnen lässt. Je frischer die Pappe, desto besser für das
		Arbeiten, denn um so stärker sind die Fettflecken noch erkennbar. Es liegt also sehr viel
		am ursprünglichen Zustand der Kuchenpappe: je nach Verteilung und Intensität der Flecke
		wird es ein über und über mit schwarzen Strukturen überzogenes Werk, voller brodelnder
		Wolken und pulsierender Energien oder eines/ das nur sehr spärlich, hier und da zarte
		Punkte zeigt – einsame Spuren, die wie Relikte als Überbleibsel von Vergangenem künden.
		Faszinierend für uns ist allemas der Einblick in eine Welt, die zunächst als unfassbar
		erscheint, die man nicht so recht verorten kann. Wie beim Blick durch ein Mikroskop in
		biologische Sphären oder durch ein Teleskop in ferne Galaxien treten Dinge vor das
		staunende Auge, die noch nie geschaut wurden und ganz offensichtlich dennoch
		vorhanden sind. Und damit sind wir beim Kern der Sache angelangt: Kunst gibt nicht das
		Sichtbare wider sondern macht sichtbar (Paul Klee). Jörn Michael vollführt mit seinen
		kleinen, kostbaren Zeichnungen genau dieses Sichtbarmachen des Unsichtbaren und zeigt,
		dass es sich öfter und überall lohnt, genau hinzuschauen – etwas, das nicht nur für die
		Kunst gilt.
		Und – ob Sie es glauben, oder nicht – die Kuchenpappen leben. Manche jedenfalls.
		Dadurch, das das Fett im Laufe der Zeit noch weiter von der Papierfaser hineingesaugt
		wird, begeben sich auch die Farbpigmente mit auf Wanderschaft und verändern somit
		langsam das Bild. Wie gesagt, auch das spricht dafür, die Werke ganz intensiv zu
		betrachten und in ein paar Tagen noch einmal nachzuschauen.
		Ein Stück Kuchen kaufen und essen ist nun etwas anderes als früher, als die Pappen noch
		unbeachtet in den Müll wanderten. Man darf es nur nicht so weit kommen lassen, dass
		man den Kuchen nur wegen der Pappe kauft.
		
		
		Lassen Sie es sich schmecken.
		
		
		Alexander Stoll,  September 2004